Gestern abend sah ich nichtsahnend auf mein Telefon. Eine Nachricht von meiner lieben Kollegin Seema von Dresdenwalks- wie schön! Ein Foto und ein Satz:
"Hi Susi, do you know which sculpture this is?"
Seema kennt mich- ich helfe gern wenn ich kann und wir haben ja gerade nichts anderes zu tun, da ist so eine Suche mal eine tolle Abwechslung vom harten Lockdown. Zuerst fiel mir die Brühlsche Terrasse ein- wegen der Stufen. Aber da stand nie so ein Denkmal und der Stufenverlauf ist auch anders.
Bei Betrachtung der Figuren fiel mir schnell ein Bezug zur Kunst oder Bildung auf- und unverkennbar ein Stil, der in die Zeit Rietschel- aber wohl eher Spätwerk Johannes Schilling passt. Aber Schilling kann es nicht sein- bei der Größenordnung wüsste ich es, den Herrn habe ich bereits erforscht und kenne den "Werkskatalog". Die Qualität ist aber definitiv so hoch, das es kein unbedeutender Künstler war und wohl eine Bildhauerschule/ Kunstakademie dahinter steckt. Die beiden Figuren links oben auf dem Relief sehen so aus als würden sie jemanden "preisen" oder zu ihm aufschauen- die große Figur im Vordergrund ist definitiv nur ein Auftakt am Sockel zu etwas Größerem. Links und rechts Engel oder ähnliches in Gewändern, die auf Kugeln (Weltkugeln?) stehen.
Ich versuchte es mit alten Dresdner Bildern- aber irgend etwas sagte mir, das das nicht sein kann- ein Monument in der Größenordnung übersieht man nicht- es würde auf einem repräsentativen Platz wie dem Theaterplatz stehen- aber da steht Schillings Reiterdenkmal. Nirgends in Dresden gibt es eine derartige Treppenanlage- und auch vor 1945 war da z.B. auf der Neustädter Elbseite keine Anlage in der Größenordnung. Ich kam nach etwa 10 Minuten zu der Entscheidung, das es nicht in Dresden sein kann! Und damit hätte ich auch aufgeben können- denn in anderen Städten kenne ich mich mit den Skulpturen vor 1945 nicht so gut aus. Ich war mir da schon ziemlich sicher, das es nicht mehr steht- soviel schönes Metall ist doch eine Einladung zum Einschmelzen- ich tippte auf den II. Weltkrieg als Zerstörer des Denkmals.
Wo konnte die Mutter anno 1922 von Dresden aus hingekommen sein, in welche andere Großstadt? Vielleicht als Tagestour? Leipzig? Das kenne ich auch noch relativ gut- auch da nichts in der Größe- das Völkerschlachtdenkmal ist es definitiv nicht, aber ich legte mich so langsam instinktmäßig auf eine Bedeutung dieser Größenordnung fest. Das ist etwas Großes, Politisches. Maximal noch für einen Künstler oder als Allegorie für die Kunst im Treppenbereich einer Akademie- aufgrund der Büste und der restlichen Darstellung.
Reisen anno 1922
Dass ich mich für die Eisenbahn interessiere ist kein Geheimnis- und so ein wenig Wissen dazu, was wann in der Technikgeschichte passierte und vor allem: wann es am erfolgreichsten war, hilft manchmal ungemein. Mir fiel da etwas ein: Bahn fahren nach Berlin war damals sehr beliebt... und Berlin war eine wirkliche Großstadt, die im 19. Jh. erst so richtig aufblühte. Nur da kenne ich mich, was Skulpturen angeht, nicht wirklich aus, aber so ein Monument würde irgendwie passen.
Also wieder die gute alte Internet-Bildersuche bemüht, und plötzlich war da der Instinkt, das es das ist. Dieses Bild war das Erste, bei dem es klick machte- auch wenn da gar nicht die Figur wie auf dem fraglichen Foto zu sehen ist- aber die Treppen und die Engel sind da...
Nach ca. 1 Stunde hatte ich die Lösung gefunden und schickte Seema das Ergebnis, dann suchte ich weiter nach anderen Bildern, die die Figur besser zeigen, um die es ging- sozusagen der Beweis, das es dieses Monument wirklich ist.
Auf der Seite der Kulturdatenbank wurde ich fündig zu den Einzelheiten. Hier der Link zum Kaiser-Wilhelm-Nationaldenkmal. Das Denkmal an sich ist ehrlich gesagt so interessant das ich das gerne nochmal näher betrachten möchte. Stichwort: "Der Zoo von Wilhelm Zwo"!
Ich hatte geahnt, das es groß ist- das es aber einst so eine Bedeutung hatte und vor allem nicht etwa im 2. Weltkrieg verschwand sondern erst nach Gründung der DDR 1950 größtenteils eingeschmolzen wurde, ist wieder eine interessante Geschichtsstunde. Das auch andere Nachkommen per Foto nach genau diesem Denkmal suchten fand Seema dann auch schnell heraus- dank Videoplattform kann man heute eben fast überall digital hinreisen- schön in Zeiten des Lockdowns.
Apropos Reisen- warum nicht einfach mal mit den Damen reisen- wie hätte das damals ausgesehen? Wollen wir nicht einfach mal eine kleine Zeitreise ins Jahr 1922 machen? Dresdenwalks steht still- dann zeige ich Ihnen eben Berlin per Tagestour- anno 1922! Und Sie müssen dafür nicht einmal die Wohnung verlassen!
Eine (erdachte) Tagestour von Dresden nach Berlin
Wie findet man heraus, was eine Reisegesellschaft anno 1922 in Berlin gesehen haben könnte- warum sie überhaupt von Dresden wahrscheinlich den Zug nahm (mit einer Sächsischen oder Preußischen Dampflok vorgespannt) und was vielleicht ganz anders war als heute?
Es gab noch kein Google, liebe junge Generation, man musste noch Bücher und Zeitungen lesen, um zu wissen, wo die Sehenswürdigkeiten sind... und als Gästeführer hat man so eine Ahnung, welches Buch helfen könnte- der Baedeker natürlich! Es gab auch andere Reiseführer, aber den Baedeker konnte man überall kaufen, er war bekannt und erfahrungsgemäß sagen alle Reiseführer-Büchlein ähnliches zu den Highlights aus. Die Frage ist dann erstmal, welcher Baedeker- welche Ausgabe konnte es sein? Ich stieß auf diesen hier:
Berlin und Umgebung. Handbuch für Reisende von Karl Baedeker. Achtzehnte Auflage. 1914
Nun liegen zwischen dieser Ausgabe und dem Jahr 1922 allerdings einige Jahre- ein ganzer Weltkrieg und die Inflation von 1922/23 wird wohl auch schon ein Thema gewesen sein. Nun- gut gedacht, aber die neunzehnte Auflage des Buches kam erst 1927 heraus! Das heißt also, unsere Damen werden, wenn sie mit Reiseführer unterwegs waren, diese Informationen genutzt haben.
Start könnte der Dresdner Hauptbahnhof gewesen sein, die Strecke Dresden-Berlin verlief zu der Zeit vom Dresdner Hauptbahnhof zum Anhalter Bahnhof und die Zugfahrt dauerte ca. 160 Minuten (oder etwas weniger, ich fand nur Angaben für 1905 und der Hentschel-Wegmann Zug, der die Strecke in 100 Minuten- somit schneller als heute- schaffte wurde erst 1937 eingesetzt). Es ging über Radebeul (mit Aussicht auf die Weinberge), Großenhain, Elsterwerda nach Berlin- und dort sicherlich bis zum Anhalter Bahnhof, der dem Stadtzentrum mit Museumsinsel wohl am nächsten lag.
Von dort aus konnten die Damen über den Potsdamer Platz zum Brandenburger Tor in etwa 20 Minuten Fußmarsch gelangen, oder die Strassenbahn oder Untergrundbahn nehmen.
Vom Anhalter Bahnhof ist leider nur noch ein Ruinenteil übrig- er wurde im 2. Weltkrieg beim Angriff größtenteils zerstört und die Reste des Eingangsgebäudes sowie die verwachsenen Gleiskörper habe ich vor ein paar Jahren bei meinem Tagesausflug nach Berlin sehen können.
Der Potsdamer Platz wäre für viele heutige Besucher wohl ein Highlight, denn es war für lange Zeit die größte Baustelle Berlins- anno 1922 liest sich das im Baedeker so:
"Der wenig umfangreiche Potsdamer Platz ist besonders durch den gewaltigen Verkehr nach dem Südwesten von Berlin belastet; mit dem Überschreiten warte man, bis der Fahrverkehr durch die Polizeibeamten zum Stehen gebracht ist..."
Das nächste Highlight der Tour wäre wohl schon damals das Brandenburger Tor gewesen. Es entstand vor 1800 und die Quadriga, die uns Dresdner immer an unsere Pantherquadriga auf der Semperoper erinnert, wurde von Johann Gottfried Schadow gestaltet.
Die Damen waren wohl bis hierher schon an vielen Nobelhotels mit ihren Restaurants vorbei gekommen- Berlin mauserte sich seit 1900 zur Großstadt mit Flair. Die Beschreibung für "Unter den Linden" verrät, was die Damen dort wohl erlebten. Die Strasse stammt bereits aus dem 17. Jh., wurde aber erweitert und war vor 1945 1,3km lang und 60m breit. Bis zum 1. Weltkrieg war sie der Schauplatz für die kaiserlichen Einzüge und Militärparaden- nun, in der Weimarer Republik wurde sie mehr und mehr zur "Shopping- und Flaniermeile".
"Außer Botschaften und Ministerien, zwei Kaiserlichen Palästen, der kgl. Bibliothek, der Universität, dem Zeughaus und mehrern Denkmälern enthält sie eine Anzahl glänzender Geschäftshäuser und Gasthöfe, die seit dem Ende des XIX. Jahhunderst allmählich die älteren schlichten Häuser verdrängen. Besonders zahlreich sind die Reisebureaus [Das Schwedische Reisebureau befand sich im Jahre 1914 im Haus mit der Adresse: Unter den Linden 22/23] und die Juwelierläden. Die "Linden" sind der Brennpunkt des vornehmen Berliner Lebens."
Wenn man dann auf das Geschäftsverzeichnis im Baedeker schaut wird klar: Wenn die Damen an Luxusgütern interessiert waren (oder nur mal gucken wollten) dann waren sie hier richtig. Wohl auch sehr ermüdend nach einer gewissen Zeit, also wo ist das nächste Café?
Schicken wir die Damen doch zu Kranzler- das war eine Institution in Berlin, allerdings eher in der Zeit der BRD an anderer Stelle, doch die beiden Café-Häuser auf der Postkarte empfiehlt der Baedeker ausdrücklich. Vom Balkon des Kranzlers (rechtes Haus) wurden bis 1933 die Silvesteransprachen der Funk-Stunde-Berlin gesendet, leider wurde es 1945 wie so vieles in diesem Stadtteil zerstört.
Frisch gestärkt geht es weiter zur Spreeinsel mit dem Berliner Schloss, dem Dom und den Museen. Vielleicht haben die Damen sich Gemälde oder auch ägyptische Kunst angesehen. Ich kann Ihnen nur verraten, was sie NICHT sehen konnten: Das Pergamon-Museum, welches heute für den Pergamon-Altar und das Ischtar-Tor aus Babylon so berühmt ist. Der Altar war nur in Teilen des Reliefs in den Kolonnaden an der Ostseite des Neuen Museums durch Fenster zu sehen. Und das blaue Ischtar-Tor mit seinen Löwen und Fabelwesen? Nun, das war vom 1. Weltkrieg ausgebremst worden und die Übersendung der Bruchstücke in ca. 800 Kisten erfolgte in 2 Lieferungen, die 2. erst 1927. Erst 1930 konnte eine Kopie des Tores, das zu den 7 Weltwundern der Antike zählte, im neuen "Pergamon-Museum" präsentiert werden.
Foto zur Beweisaufnahme: Wir waren da!
Es mag sein, das die Damen ganz andere Ziele hatten- wer weiß. Aber eines ist sicher: Sie haben das Kaiser-Wilhelm-Nationaldenkmal gesehen! Und es war wohl eine Art Highlight der Tour, sonst hätten sie sich wohl nicht gerade davor so schön positioniert. Würden wir heutigen nicht eher das Brandenburger Tor wählen? Oder den Fernsehturm zwischen den Fingern verkleinern? Wenn das Fotografieren noch etwas ganz Besonderes wäre- welches EINE Motiv würden Sie in Berlin wählen? Die Wahl dessen, was uns in Erinnerung bleibt, ist heute eher wahl-los. Wir knipsen alles, was uns vor die Linse kommt. Deshalb konnte ich diesen Artikel mit Bildern aus Berlin unterlegen, die mir angesichts des Lockdowns so derzeit nicht zur Verfügung stehen würden. Ich könnte alle Bilder aus freien Quellen wählen- aber wäre es dann noch mein persönlicher Artikel? Ich war auch da- in Berlin. Das war 2014 und auch nur eine Tagestour von Dresden aus. Und auch wir machten Beweisbilder: Wir waren da!
Wenn wir alle schon daheim sitzen- wie wäre es mit einer Zeitreise zu Ihren eigenen Reisen in die Vergangenheit? Computer an, Bildordner auf und schon geht es los: verreisen Sie! Und knipsen Sie, was Ihnen wichtig ist- wer weiß, eines Tages kommen Ihre Enkel auf die Idee, das sie wissen wollen, wo die Oma mal war. Und dann erfahren diese vielleicht etwas von Ihnen, was Sie nie erwähnt haben. Das der Urlaub in Dresden einen Besuch in Berlin beinhaltete zum Beispiel. Solche Geschichten erzählen sich auch prima unterm Weihnachtsbaum oder ganz modern per Zoom-Meeting. Dieses Jahr ist alles anders- machen sie das Beste im ganz Kleinen daraus!
Ich freue mich, wenn ich Eva aus Schweden einen kleinen Teil ihrer Mutter zeigen konnte, von dem sie vielleicht nichts wusste und bedanke mich bei Seema, das sie an mich dachte. Auch wenn wir derzeit eben nicht auf den Dresdner Straßen unterwegs sind und Ihnen unsere schöne Stadt zeigen- sie merken schon- wir finden immer unsere "Opfer" ;-), die mehr Geschichte erfahren als sie vorher ahnten! Ich glaube das fehlt uns Gästeführern am meisten derzeit- der Austausch mit unseren Gästen- denn genau diese Reisegeschichten sind es, die unsere Führungen auch ausmachen- das Miteinander und das wirkliche Erleben!
Bleiben Sie gesund und kommen Sie wieder nach Dresden, wenn wir diese schwierige Zeit gemeistert haben!
Frohe Weihnachten vom gesamten DresdenWalks- Team!