Der Engel
In der Kindheit frühen Tagen
Hört´ ich oft von Engeln sagen,
Die des Himmels hehre Wonne
Tauschen mit der Erdensonne.
Daß, wo bang ein Herz in Sorgen
Schmachtet vor der Welt verborgen.
Daß, wo still es will verbluten,
Und vergehn in Tränenfluten.
Daß, wo brünstig ein Gebet
Einzig um Erlösung fleht,
Da der Engel niederschwebt,
Und es sanft gen Himmel hebt.
Ja, es stieg auch mir ein Engel nieder,
Und auf leuchtendem Gefieder
Führt er, ferne jedem Schmerz,
Meinen Geist nun himmelwärts.
Mathilde Wesendonck
Das "Besondere" Grabmal
Es gab eine Zeit in der ich glaubte, die Engel wären die ganz besonderen Figuren auf den Friedhöfen. Einzigartig. Unglaublich wertvoll. Und jeder, der sich in dieser Zeit mit demselben Thema auseinandersetzte, war auf einer regelrechten Jagd nach ihnen. Wer machte das besondere Foto? Wo war welcher Engel zu finden?
Sie haben sich sehr rar gemacht, die Himmelsboten. Und das liegt nicht daran, das sie weg geflogen wären. Die Zeit, die Mode und vor allem die Friedhofsreformen der 30er und vierziger Jahre haben sie entschwinden lassen. So sind sie heute wirklich etwas ganz Besonderes. Die wenigen, die uns noch bleiben...
Katalogware anno 1900
Je öfter ich sie traf, desto seltsamer wurde es aber. Sie hatten Geschwister. Zwillinge, um genau zu sein. Der Engel aus Hamburg stand plötzlich in Dresden. Wie konnte das sein?
Man muss schon ein wenig suchen, um Informationen zur Geschichte der Grabmäler zu finden- muss die richtigen Begriffe kennen und manchmal auch querdenken.
Zum Glück ist Ohlsdorf ein so gut erforschter Friedhof das er seine eigene "Bibel" der Grabkunst hat. Eine Veröffentlichung aus dem Jahr 1990 in 2 Bänden erlaubt Rückschlüsse auf die deutschlandweite Friedhofskultur. Und plötzlich steht da ein Name, mit dem man ganz andere Produkte verbindet.
WMF. Ja, genau. Die Topf-und Besteckfabrikanten, die als Hochzeitsgeschenk einen guten Eindruck machen.
Die jährlichen Produktkataloge der Firma lassen einen Rückschluss auf diesen Produktionszweig zu. Die Galvanoplastiken tauchen Mitte der 1890er Jahre nach dem Aufkauf der Münchner "Galvano-Bronzen" Fabrik durch die WMF auf, erste Kataloge sind nicht überliefert. Den Boom erlebten sie in den Jahren 1900-1910, nach 1920 machten sie sich schon wieder rar. Erhalten sind in Ohlsdorf wohl ca. 150 galvanoplastische Figuren, davon ist ein Großteil von WMF und nur 2 weitere Firmen ergänzten das Angebot. Wie viele Figuren über Deutschland verteilt noch zu finden sind, steht auf einem ganz anderen Blatt.
Ein Massenprodukt?
Den Anschein der Exklusivität konnte man natürlich dadurch erreichen, das nur jeweils ein Modell pro Friedhof aufgestellt wurde. Dies wurde von der Firma WMF sogar bewusst forciert und es kam zu Sperrungen einzelner Modelle, je nach Friedhofsgrösse. Die Firma konnte somit aktiv auf die Verbreitung Einfluss nehmen und ihren Käufern den Hauch des Exklusiven bieten.
Aber wer konnte sich eine Galvanoplastik überhaupt leisten? Wie teuer war eine Skulptur zur damaligen Zeit, bezogen auf das Einkommen?
Je nach Ausstattung (mit oder ohne Flügel, dekorative Elemente wie Palmwedel) konnte der Preis zwischen 250,- bis 1250,- Mark liegen.
Zum Vergleich: ein Maurer oder Steinmetz verdiente um 1900 beim Bahntrassenbau pro Tag max. 4,20 Mark. Bezieht man dies auf die heutige Zeit würde die Figur also durchaus ein halbes Jahreseinkommen eines ausgebildeten Arbeiters oder mehr kosten. Kein Grabschmuck für die breite Masse...
Auch wenn die Engel also Katalogware waren, muss man vorsichtig damit sein, sie als "Massenware" zu verunglimpfen. Sie waren beliebt und hatten ihre Hochzeit für maximal 30 Jahre. Die WMF verdiente damals mit dem Produktionszweig der Galvanoskulptur ein Vermögen. Letzlich sind auch Kriegerdenkmäler und kleinere Skulpturen in der wilhelminischen Epoche sehr gefragt. Dies macht die Sepulkralskulpturen allerdings für die Friedhöfe, auf denen sie heute noch erhalten sind, nicht weniger wertvoll.
Dem Einschmelzen im Krieg entgingen die Engel und andere Galvanofiguren aus einem einfachen Grund - ihrer Herstellungsweise. Die Bronzeschicht ist so dünn das sie schlichtweg nicht wertvoll genug waren und der Aufwand nicht lohnte, um das Metall zu nutzen. Der Wille zur billigen Imitation der wahren, teuren Bronze rettete somit die Engel auf Erden.
WMF als den Haupthersteller solcher Figuren zu finden ist übrigens nicht so ungewöhnlich wie es scheint. Die Galvanisierung findet bei Pfannen und Töpfen weite Verwendung, es war also lediglich eine Erweiterung des Firmenportfolios, Grabfiguren herzustellen. Wenn Sie also das nächste Mal exklusive Töpfe erwerben und man Ihnen die Vorzüge der Galvanisierung anpreist- denken Sie an die Engel. Sie haben trotz schwerer Zeiten teils bis heute überlebt und es ist schön zu sehen, wie sie heute wieder zu Ehren kommen und sich der ein oder andere Pate findet.
Der Engel des Déjà-Vu
Engel (mit Rose)
Künstler: R. Liebhaber
Firma: WMF "Galvanoplastische Kunstanstalt Geislingen-St."
Preis um 1900: ca. 600,- Mark
Die Haltung der linken Hand an das Herz ist als Zeichen des Mitgefühls mit den Hinterbliebenen zu sehen, die rechte Hand trug eventuell einmal eine Rose als Zeichen der Liebe, die den Tod überwindet. Leider sind die Rosen bei den meisten Engeln nicht mehr erhalten oder waren evtl. nie vorhanden, der ursprüngliche Entwurf sah sie als Gegenpol zum Mitgefühl wahrscheinlich vor.
Dieser Engel ist allein auf dem Ohlsdorfer Friedhof noch 34 mal erhalten (Angaben aus dem Jahr 1990). In Dresden ist er auf mehreren Friedhöfen vertreten.
Weitere Sichtungen in Dresden:
Die Galvanoplastik und ihr Erhalt
Engel mit Palmwedel
Künstler: Adolf Lehnert
Firma: WMF "Galvanoplastische Kunstanstalt Geislingen"
Der Engel hält in der linken Hand einen Palmwedel als Zeichen des Friedens, die Rechte ist leicht zum Segen erhoben.
Der Engel wurde mindestens zweimal auf dem Ohlsdorfer Friedhof in fast gleicher Ausführung aufgestellt.
Dadurch ist der direkte Vergleich des Erhaltungszustandes möglich.
Die geborstene Figur auf dem Grab Kremer/ Quinckhardt gibt Einblick auf das Innenleben der galvanoplastischen Figuren. Es handelt sich um Gips, der in eine vorgefertigte Form gegossen wurde. Im Anschluss erfolgt im galvanischen Prozess der millimeterdünne bronzene Überzug. Die Flügel werden innerlich durch Eisenarmierungen gestützt.
Weitere Fundstücke der Marke "Galvanoplastische Kunstanstalt Geislingen" in Dresden bisher:
Auf einem Dresdner Friedhof
Segnender Engel
Künstler: Heinrich Pohlmann (?)
Firma: WMF "Galvanoplastische Kunstanstalt Geislingen-St."
Im Sockelbereich findet sich das aufgesetzte Schild der "Galvanopl. Kunstanstalt Geislingen a.St". Darüber eine Künstlersignatur, die ich als Pohlmann deute (allerdings sind von Pohlmann auch andere Signaturformen überliefert).
Heinrich Pohlmann war ein bekannter Bildhauer der Berliner Bildhauerschule. Er verstarb 1917, seine Entwürfe wurden aber von der WMF weiterverwendet. Einen sehr ähnlichen Engel findet man auf dem Grab des Apothekers Arno Weyrauch in Leipzig, allerdings weicht der Kopf etwas ab. Da es die Engel in verschiedenen Ausführungen gab und gerade der Engel von 1919, No. 913 mit verschiedenem Kopfschmuck angeboten wurde ist wohl davon auszugehen, das es sich um den doch recht verbreiteten Engel Pohlmanns handelt, den man auch auf dem Ohlsdorfer Friedhof findet.