Es gibt keine Zufälle im Leben. Auch wenn es so scheint in dem Moment, in dem es passiert. Wir sind nur die Summe all der Teile, die das Leben uns sendet.
Wo beginnt meine Reise des Lebens - und wohin führt sie mich noch? In einer Zeit, in der man zur Stille gezwungen wird, kann man auch mal philosophisch werden und den Sinn des bisherigen Lebens(kampfes) in Frage stellen.
Den Moment auszumachen - zu benennen, wo das eigene Ich begann und dieses Eigenleben entwickelte, das allgemein als "Charakter" angesehen wird - das kann zur Mammutaufgabe werden. Und über manch ein Erlebnis stolpert man wie über eine fiese Baumwurzel, die da einfach nicht verschwinden will auf dem Weg des Lebens. Dann lächelt man erstmal, richtet sich wieder auf und geht weiter, so als wäre nichts gewesen. Hoffentlich hat es keiner gesehen - das ist ja peinlich, so zu stolpern.
Ich bin über das Leben gestolpert. Es war ein Unfall und es ist lange her. Und keiner hat es gesehen. Zum Glück, dachte ich.
Aber meine Wurzel, die blieb und wuchs weiter, breitete sich aus und grub sich tiefer. Und irgendwann stolperte ich eben so richtig - und dann sieht es doch mal jemand.
Weil ich gute Freunde habe, die mir die Hand reichten, lernte ich den Weg neu zu gehen- merkte mir die gefährliche Stelle und kann rechtzeitig den Schritt verändern. Aber das verändert dann eben auch den Weg, den mein Leben geht. Und es ändert grundlegend meine Haltung dazu, wie dumm es war zu hoffen, das keiner es gesehen hat.
Für manch einen ist so ein Hindernis im Leben die schwere Kindheit. Der Verlust eines Menschen. Der gescheiterte Traumberuf. Oder eben ein Unfall, der einen an den Rand des Lebens und darüber hinaus treibt. Es hat auch einen wissenschaftlichen Namen: Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS). Eine verzögerte Reaktion auf ein extrem belastendes Ereignis in der Vergangenheit.
Ein Nahtoderlebnis (oder auch "nur" der absoluten Todesangst ausgeliefert zu sein) ist nichts, was man als Kind einfach wegsteckt. Auch wenn man erst einmal glaubt, es beherrschen zu können. Man vergisst es sogar. Man arrangiert sich, meidet die Situation, die es wieder hochholen könnte. Und denkt alles wäre okay.
Das Licht am Ende des Tunnels - wie es immer so schön heißt - kann auch eine Tür sein. Ein Portal, von dem man erwartet, das es sich wieder schließt hinter einem, wenn man hindurch gegangen ist.
Nun - die Tür zur anderen Seite hatte an dem Tag, an dem ich durchgespäht habe, wohl einen Defekt...
Unsere moderne Gesellschaft verdrängt den Tod, weil er so unbekannt ist. Weil alles, was so dunkel und fremd ist, schlecht sein muss. Der Tod tut mir ein wenig leid. Niemand will ihn, alle fürchten ihn - und doch wird jeder von uns nicht darum herum kommen, eines Tages seine Hand zu nehmen und mitzugehen. Und je nachdem, wie stark wir vertrauen, das alles gut wird, ist es einfacher oder eben viel schwerer.
Irgend etwas hat das Jahr 2020 mit den Seelen der Menschen gemacht. Diese Situation, die manch einen in die Verzweiflung treibt, aber die Mehrzahl derer, die ich treffe, eher positiv verändert, sie hat Türen geöffnet. Menschen, von denen ich nie erwartet hätte, das sie über den Sinn des Lebens nachdenken könnten - woher und wohin - überraschen mich mit ängstlicher Offenheit. Sie wagen sich in unbekannte Bereiche und suchen nach Worten. Wissen nicht, was da gerade mit ihnen passiert. Und sie fragen mich. Wie ich das sehe, ob ich einen Rat habe. Als ahnten sie, das ich etwas Vorlauf habe. Wenn sie dann erfahren, woher meine Sichtweise rührt, wird es zu meiner Überraschung einfacher.
Dieses Jahr hat es in sich. Es treibt uns alle zu uns selbst und zurück zu unseren Wurzeln. Ich bin aus Leidenschaft Gästeführerin. Das heißt, ich erzähle Menschen gern, was ich zur Geschichte eines Ortes herausgefunden habe. Weil ich ihnen damit etwas geben kann - ein Gefühl, ein Erlebnis. Etwas, das sie auf den weiteren Weg durch eine Stadt wie Dresden mitnehmen können. Eine Erinnerung, die bleibt.
Sepulkralkultur - das ist auch das Erinnern an Vergangenes. Die meisten Menschen, über die ich in meinen Führungen spreche, sind tot. Das ist ein Fakt. Also warum nicht das Eine mit dem Anderen verbinden - nicht im Sinne einer klassischen Führung, sondern mehr als Lernprozess?
Dresden neu zu entdecken - über seine Toten und was sie zu berichten haben - das wird ein spannender Weg. Nicht immer nach den Regeln der üblichen Recherche, manchmal mit ganz eigenen Verläufen, woher ein Thema kommt und wohin es führt und mit Sicherheit mit einem befreienden Humor zu einem überhaupt nicht schrecklichen Thema. Aber immer mit dem Wissen, das all das nichts anderes ist wie ein Geschichtsstudium der lebendigen Art.
Das ist das Suspekte daran, wenn man auf Friedhöfen unterwegs ist und die Namen derjenigen liest, die dort ruhen. Sie sind sehr viel präsenter als wenn man ihre Namen in einem Buch in einer Bibliothek erarbeitet. Sich durcharbeitet durch ihre Leben, ohne zu wissen, was sie dachten und wer sie sein wollten. Wie ihre Hinterbliebenen sie wirklich sahen. Gräber sprechen Bände. Sie lesen zu lernen, die Seele der Menschheit und was sie im Anblick des Todes bewegt, zu erforschen - das soll der Weg sein für diese Seiten. Das Ziel ist völlig unbekannt, und das kann sehr befreiend sein im Jahr 2020!